Eine Leseprobe aus dem Buch Mystica Venezia

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Mit dem September hatten starke Regenfälle eingesetzt, und je weiter man nach Norden vordrang, desto stärker wurden sie. Mehr als einmal hatte sich der einfache Wagen mit seinen Holzrädern schon im Schlamm festgefahren. Der Kutscher legte Bretter, manchmal auch schwere flache Steine vor die Räder, wenn sie an besonders morastige Stellen kamen, doch nicht immer reichte das aus. Immer wieder geriet der primitive Leiterwagen ins Wanken, und sie mussten aussteigen und ein Stück des Weges zu Fuß zurücklegen, bis das Schlimmste überstanden war.
Christina Maria seufzte und dachte sehnsuchtsvoll an das bequeme Leben in Wien zurück. Weit und beschwerlich war der Weg zu Giuseppes selbst erwählter Heimatstadt. Wohl bekamen sie Unterkunft in den Orten und Städten, die sie durchquerten, und ihre Papiere öffneten ihnen so manch verschlossene Tür, dennoch war hier nichts mehr von dem Prunk und Glanz Venedigs oder Wiens zu spüren.
Es würde noch Tage dauern, bis sie Dessau erreichten und damit eine würdigere Unterkunft im Schoße des Ordens. Christina zog den schweren wollenen Umhang fester um ihre Schultern, der jedoch kaum Schutz vor dem peitschenden Regen bot.
Die Esel hatten sie inzwischen in Pferde eingetauscht. Schemenhaft tauchten jetzt die Häuser einer Stadt in der Ferne auf, noch zu weit entfernt, um wirklich etwas erkennen zu können.
„Wir müssen zu Fuß weiter, Duca. Die Tiere schaffen es sonst nicht. Wir sollten entweder eine längere Pause einlegen oder die Gäule in der Stadt auswechseln lassen.” Christina Maria nickte tapfer. Giuseppe lief das Regenwasser in Rinnsalen über das Gesicht, und seine sonst so humorvollen Augen schauten sie besorgt an.
„Es geht schon”, murmelte sie. Auch der Kutscher war inzwischen abgestiegen und führte die Pferde durch den knöcheltiefen Schlamm. Schweigend ging Christina neben ihrem Auserkorenen her, der sie sorgsam stützte, damit sie nicht ausglitt.
Mit der Nähe der Stadt kam auch der Gestank nach Abfällen und menschlichem Unrat, Christina Maria hatte sich schon daran gewöhnt. Doch etwas war diesmal anders. Selbst bei Regenwetter waren Händler und Wegelagerer vor größeren Ansiedlungen nichts Außergewöhnliches, die Menschen des Mittelalters waren hart im Nehmen. Doch dieser alte Mann, der auf sie zuwankte wie ein Betrunkener, der flehend seine Hände erhob und jetzt plötzlich im Schlamm niederkniete, hatte etwas Groteskes und Bedrohliches an sich.
„Das Strafgericht Gottes kommt über uns! Herr erbarme dich, wir alle sind von Sünden befleckt …” Er hatte sein Antlitz gen Himmel erhoben, die Augen seltsam verdreht. Aus einem Impuls heraus wollte Christina ihm die Hand auf die Schulter legen, doch er wich in Panik zurück und wehrte ab. Sie konnte seine verfaulten Zahnstummel erkennen, so nah war er ihr. Ein übler Geruch haftete ihm an.
„Kehrt um, solange ihr es noch könnt. Der Zorn des Allmächtigen wird bald alle in dieser Stadt treffen. Schon jetzt haben sie die Türen der Verdammten mit Kreuzen gekennzeichnet, und die Toten liegen überall in den Gassen. Das große Sterben hat begonnen.” Er wandte den Blick von ihnen ab.
„Oh Herr, erbarme dich unser!” Seine Stimme ging in einem Aufheulen unter.
Giuseppe erstarrte.
„Was meint er? Ist Krieg?” Christina Maria schmiegte sich eng an ihn und starrte ihn aus verängstigten Augen an.
„Nein. Kreuze an den Türen, das große Sterben, das bedeutet eine Seuche. Der Schwarze Tod, er ist zurückgekehrt.” Sein Blick hatte sich verdunkelt. Er wandte sich um und schrie den Kutscher panisch an:
„Zurück, sofort umkehren! Wir können nicht in die Stadt! Wir ändern die Route!”
Dann legte er den Arm fest um ihre Schultern.
„Du weißt, was das bedeutet?” Sie nickte, und ihr Gesicht war bleich wie der Tod, als sie das Wort aussprach, das Giuseppe nicht kennen konnte, denn es war noch unbekannt zu jenen Zeiten.
Es war nicht mehr als ein Hauch.
„Pest.”
Sie mussten weiter, hoffen, dass der nächste Ort der Seuche noch nicht zum Opfer gefallen war. Hoffen, dass sie selbst noch nicht infiziert waren. Weiter ohne Proviant, nur das Regenwasser würde ihren Durst stillen.
Einsam blieb der fremde Mann vor den Toren der Stadt zurück, er war bereits gezeichnet, ein Unberührbarer. Als Christina Maria sich noch einmal nach ihm umschaute, kniete er noch immer unverändert im Schlamm, wie ein Mahnmal, anklagend, mit zum Himmel erhobenen Armen.

Mystica Venezia
Eine verschwundene Braut, ein Sensenmann als Gondoliere, eine blinde Malerin, ein seltsames Zeichen an einer Mauer und ein geheimnisvoller Orden, Guido hat sich seine Hochzeitsreise nach Venedig dann doch etwas anders vorgestellt. Verzweifelt macht er sich gemeinsam mit seiner Schwägerin Ana Karina in den Wirren des Karnevals, der durch die engen Gassen der Lagunenstadt tobt, auf die fast aussichtslose Suche nach Christina Maria und stößt dabei auf eine uralte Legende.
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©byChristine Erdic

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Firmeninformation
Die deutsche Buchautorin Christine Erdic lebt zur Zeit hauptsächlich in der Türkei.
Beruflich unterrichtet sie in der Türkei Deutsch für Schüler (Nachhilfe), sie gab
Sprachtraining an der Uni und machte Übersetzungen für türkische Zeitungen.
Mehr Infos unter Meine Bücher- und Koboldecke
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